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Klinikmord-Prozess: Högel wird mit jedem Fall konfrontiert

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Normalerweise finden in der Weser-Ems-Halle Konzerte, Comedy-Shows und Messen statt. Der eine oder andere Oldenburger kennt die Halle auch von Feiern beim Kramermarkt, dem Abiball oder Partys an Silvester. Doch am 21. November stehen keine erwartungsvollen Besucher mit ihren Eintrittskarten vor der Halle in Donnerschwee, keiner wartet im Abiballkleid oder Silvesteroutfit vor der Tür. In dieser Woche verwandelt sich der Veranstaltungsort erneut in einen Gerichtssaal: Der größte  Serienmörder der Nachkriegszeit sitzt in der Halle, in der vor etwa einem Monat noch eine Hochzeitmesse statt fand.

Um 7.30 Uhr ist noch nicht viel los. Allein das Schild „Landgericht Oldenburg – Nebenstelle Weser-Ems-Halle“ deutet darauf hin, wofür die Halle in den kommenden Stunden genutzt werden wird. Auch mehrere Einsatzwagen von der Polizei stehen vor dem Gebäude, ein Rettungswagen positioniert sich gerade. Pressevertreter sieht man noch keine, auch Ü-Wagen stehen noch nicht zwischen der Wiese beim City Club Hotel und der Weser-Ems-Halle. Zehn Gäste warten bei drei Grad vor dem Besuchereingang der Halle auf den Beginn des Einlasses zur Verhandlung des Ex-Krankenpflegers Niels Högel.

Landgerichtssaal zu klein

Die Verhandlung um Niels Högel ist ein Mammut-Prozess. Er ist angeklagt, 100 Patienten im Klinikum Oldenburg und im Klinikum Delmenhorst ermordet zu haben. Aufgrund der hohen Zahl der Prozessbeteiligten findet die Verhandlung nicht im großen Saal des Landgerichtes statt, sondern in der Weser-Ems-Halle. 198 Sitzplätze sind für die Öffentlichkeit reserviert, 80 davon sind der Presse zugeteilt. Im Gerichtssaal am Europaplatz erwarten die Besucher ein Richtertisch, eine Zeugenbank, Plätze für die Verteidiger, Nebenkläger und Protokollführer. Auch Kameras und zwei Leinwände sind im Saal zu finden. Der Gerichtssaal wird ungefähr alle drei Wochen auf- und abgebaut, denn die sonstigen Veranstaltungen laufen in der Halle wie gewohnt weiter. Aufgrund des Aufwands wird an jeweils zwei Tagen hintereinander verhandelt.

Die Tür geht auf, und ein Justizbeamter instruiert die Besucher. Jacken, Smartphones und Regenschirme sollen an der Garderobe abgegeben werden. In einer Reihe warten die Besucher anschließend auf ihren Gang durch den Metalldetektor und die Abtastung bei der Sicherheitskontrolle. Jegliche Waffen, Getränke, Essen und Plakate müssen ebenfalls draußen bleiben.

Wer darf beim Prozess zuschauen?

Nicht zu viel zumuten

Das Medieninteresse hat im Vergleich zum ersten Prozesstag, 30. Oktober, deutlich abgenommen. Dennoch nutzen einige Kamerateams und Fotografen kurz vor Prozessbeginn die Chance, im Gerichtssaal filmen und fotografieren zu dürfen. Mit einer blauen Mappe vor dem Gesicht betritt der 41-jährige Angeklagte den Saal. Bereits am nächsten Prozesstag präsentiert er sich ohne Schutz vor dem Gesicht, und die Fotografen können ihn auf der Anklagebank ablichten.

NWZ-Spezial zum Klinikmord-Prozess

An diesem Mittwoch, dem zweiten Prozesstag, steht einiges auf dem Programm. Högel soll vernommen werden. Vor drei Wochen bekam er von Richter Sebastian Bührmann die Hausaufgabe, die ersten 30 Fälle durchzugehen und vorzubereiten. In den kommenden Prozesstagen soll Högel zu allen 100 Fällen vernommen werden. „Der Mensch ist so aufgebaut, dass er vieles vergisst“, erklärt Bührmann zu Beginn. Wenn eine Erinnerung emotional an etwas gekoppelt ist, behält der Mensch aber auch vieles. Dennoch macht der Richter deutlich, dass Högel es klar sagen soll, wenn er sich nicht mehr an einen Patienten erinnert.

Auch einige Nebenkläger, Angehörige von Verstorbenen, sitzen im Gerichtssaal und hören zu, wenn Högel über Krankheitsverläufe,  „Manipulationen“ und seine Kollegen spricht. „Manipulation“ heißt vor Gericht der mutmaßliche Mord am Klinikbett. „Achten Sie auf sich, muten Sie sich nicht zu viel zu“, sagt Bührmann noch vor der Vernehmung den Angehörigen. Er gibt den Hinweis, dass während der Verhandlung im Aufenthaltsraum Helfer der Organisation Weißer Ring  für die Angehörigen zur Verfügung stehen. Insgesamt haben sich 126 Angehörige dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen.

Das Leiden der Anderen

Keine Pausen zwischen den „Manipulationen“

Die Patientenakten liegen hinter dem Richter auf Aktenschränken. Nach und nach holt Bührmann Akten nach vorne und befragt Högel zu den Fällen: Else S., gestorben am 7. Februar 2000 durch eine Überdosis Lidocain; Günther M., gestorben am 23. Juli 2000, Ajmalin; Franziska H., gestorben am 26. Juli 2000, auch Lidocain. Kann er sich an die Patienten erinnern? Gab es eine Manipulation mit Medikamenten, die zu einer Reanimation führen sollte, oder kann er das bei diesem Patienten ausschließen? Nach jeweils drei Fällen haben die Anwälte der Nebenkläger und die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

Zwischen einigen Fällen liegen mehrere Monate. Gab es Pausen zwischen den Manipulationen? „Kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Högel.

Ausführlich, abgeklärt und zum Teil eiskalt spricht Högel über die Mordfälle, die ihm vorgeworfen werden. Seine schwarzen Haare sind streng nach hinten gekämmt und mit Gel fixiert, er trägt eine schwarze Adidas-Jacke. Seine Aussprache ist gewählt, und er ist höflich.

26 Taten gestanden

Bis zur Mittagspause am zweiten Prozesstag werden 14 Fälle durchgesprochen. Nachdem Richter Bührmann die Pause verkündet, haben die Presse und Besucher die Möglichkeit, im Foyer Mittag zu essen oder die Weser-Ems-Halle zu verlassen. Es wirkt fast banal, im Foyer der Weser-Ems-Halle bei Gulaschsuppe, Brezel und Bockwurst mit Kartoffelsalat an einem Stehtisch zu stehen, nachdem man detailliert von ganz verschiedenen Mordfällen gehört hat.

Nach dem Mittag geht es weiter. Man merkt, dass die Konzentration schwer fällt. Högel reibt sich immer wieder mit der Hand über das Gesicht. Zum Teil verwechselt er Namen. Nach der Vernehmung zu 26 Fällen, wird der Prozesstag beendet. Am nächsten Tag, 22. November, geht es weiter. Beim dritten Prozesstag folgten die Schicksale von 24 weiteren Patienten.

Fazit der zweiten und dritten Prozesstage? Der 41-jährige Angeklagte hat 26 Taten der 50 durchgesprochenen Fälle gestanden, vier Fälle schließt er aus. An 20 Patienten kann er sich nicht erinnen. Dass es bei ihnen zu Manipulation kam, schließt er jedoch nicht aus.

Kommentar zum zweiten und dritten Tag der Verhandlung

Am Ende des dritten Prozesstages wird der Gerichtssaal wieder komplett abgebaut. Die Richterbank verschwindet, die Stühle werden weggeräumt und der Saal wird für die nächsten Veranstaltungen am Wochenende vorbereitet. Högel soll zu den nächsten Prozesstagen am 11. und 12. Dezember die anderen 50 Fälle aufarbeiten, zu denen er dann vor Gericht befragt wird. Nach aktueller Planung soll im Januar mit der Zeugenvernehmung begonnen werden.

Multimedia-Reportage zum Fall Högel

27-jährige Oldenburgerin, Seriennerd und geborener Lax mit einem Bachelor in American Studies und einem Master in Journalismus.

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